Chancen und Risiken einer vorzeitigen Einschulung

Vorzeitige-Einschulung

Soll ich mein Kind schon mit fünf Jahren zur Schule schicken? Diese Frage müssen sich viele Eltern stellen, seit es in Deutschland in Bezug auf die Einschulung die so genannte „Kann-Kinder“-Regelung gibt. Diese ermöglicht es Eltern zu wählen, ob sie ihr Kind mit fünf oder mit sechs Jahren einschulen. Dadurch müssen Eltern eine wichtige Entscheidung treffen, die ihnen vorher seitens Schulbehörde und Politik abgenommen wurde.

Entscheidungsfreiheit der Eltern

Nach wie vor ist von politischer Seite zwar geregelt, dass ein Kind, das bis zum jeweiligen bundeslandabhängigen Stichtag das sechste Lebensjahr vollendet hat, zum nächstmöglichen Datum in die Schule gehen muss und somit unter Schulpflicht steht. Allerdings sind die Eltern berechtigt, für ein nach dem Stichtag geborenes Kind eine frühere Einschulung zu beantragen. Voraussetzung, das Kind ist schulfähig.

Von diesem Recht machen Eltern in Deutschland in jüngster Zeit immer häufiger Gebrauch. Eine Ursache für das Vorziehen des Einschulungsalters ist dabei unter anderem die PISA-Debatte. Diese treibt Überlegungen, das Einschulungsalter auf fünf Jahre herabzusetzen, seit einigen Jahren voran. In einigen Bundesländern hatte sie damit sogar bereits Erfolg. Eine zusätzliche Ursache liegt im politischen Ziel eines früheren Einstiegs von jungen Menschen in das Berufsleben begründet.

Frage nach der Zukunft der Kinder

Davon geprägt haben viele Eltern die Sorge, dass ihr Kind möglicherweise etwas versäumt, wenn es erst mit sechs Jahren in die Schule kommt. Zumal viele Kinder tatsächlich mit fünf Jahren durchaus schon in der Lage sind, den Schulstoff zu bewältigen. Eltern befürchten also, den Leistungsstand ihrer Kinder nicht zu berücksichtigen, wenn sie es erst mit sechs Jahren in die Schule schicken. Mögliche „Unterforderung“ des Kindes lautet das besorgniserregende Stichwort. Aus diesem Grund denken viele Erziehungsberechtigte darüber nach, ihr Kind schon mit fünf Jahren in die Schule zu schicken. Wenn mein Kind früher in die Schule geht, kann es besser gefördert werden und hat eine bessere Karriere vor sich – so die Devise. Aber ist das wirklich so?

Ergebnisse aus der Forschung

Die Antwort darauf lautet zumindest bezogen auf die Regelschule „Nein“. 30 Prozent der Kinder, die frühzeitig eingeschult werden, wechseln nach der vierten Grundschulklasse seltener aufs Gymnasium als regulär Eingeschulte, so die Forschungsergebnisse des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Hamburger LAU-Studie. Früh Eingeschulte können ihren Vorsprung in der weiteren Schullaufbahn zudem kaum halten, so die Ergebnisse der Hamburger LAU-Studie weiterhin.

Die Gründe dafür sind laut Bildungsexperten zahlreich. So seien Fünfjährige im Allgemeinen noch auffällig verspielt, verfügten über eine kürzere Konzentrationsdauer, hätten einen höheren Bewegungsdrang und könnten sich nicht so leicht auf Veränderungen einstellen wie ältere Klassenkameraden. Dadurch fiele es den Sprösslingen nicht nur zu Schulbeginn vergleichsweise schwerer, sich in das Schulleben einzugewöhnen. Vielmehr hätte der erschwerte Einstieg auch Auswirkungen auf die weitere schulische Laufbahn. Kurz: Die von ihnen zu früh geforderte Entwicklung holt sie irgendwann ein.

Ein Blick in die Praxis

Dabei wurde ein wichtiger Punkt noch gar nicht genannt. Nämlich die Tatsache, dass Kinder mit fünf Jahren noch kein stabiles Selbstbild haben. Sie brauchen in diesem Alter noch in besonderer Weise eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson, Anerkennung und Aufmerksamkeit. Bedürfnisse, die mit der Einschulung in den meisten Klassenzimmern nicht mehr ausreichend gestillt werden können.

Richten wir zum Beispiel den Fokus auf das (kindliche) Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, erkennen wir schnell, dass die Kinder ihre eigenen Interessen und diesbezüglichen Fragen in der Schule meist zugunsten der Mehrheit in der Klasse zurückstellen müssen. Sicherlich darf man an der Stelle nicht pauschalisieren, darauf komme ich weiter unten nochmals zurück. Dennoch kommt ihnen – u.a. aufgrund der vorherrschenden Rahmenbedingungen in Regelschulen – in vielen Klassenzimmern nur selten wahre Aufmerksamkeit. Das heißt, für das Kind ändert sich mit der Einschulung etwas ganz Grundlegendes. Es ist nun eines von vielen. Eine Tatsache, die fast allen Kindern sehr zu schaffen macht.

Individualismus contra Pluralismus im Klassenzimmer

Denn sie müssen erst verstehen lernen, dass fortan nicht mehr in erster Linie ihre individuellen Interessen und Bedürfnisse eine Rolle spielen, sondern vielmehr die Interessen und Bedürfnisse der ganzen Klasse. Dabei machen wir Erwachsenen uns allzu selten bewusst, was dieses Zurückstellen der eigenen Interessen in der Konsequenz mit dem einzelnen Kind macht. Manche Kinder erfahren in der Schule tagelang, mitunter sogar monatelang keinen Wissenszuwachs in einem Bereich, der sie von innen heraus motiviert. Dabei liegen die Folgen auf der Hand. Das Kind ist deprimiert.

Folgen für den Unterricht – ein Teufelskreis

Nicht selten denkt es, wenn es nur laut und vehement auf sich aufmerksam macht, bekommt es schon die benötigte Aufmerksamkeit. Allerdings ist diese dann in der Realität keineswegs positiv. Vielmehr kontaktiert die Lehrperson (meist aufgebracht) die Eltern und tut ihnen die Unterrichtsstörung, die von ihrem Kind ausgeht, kund. Eine Lektion ob des Fehlverhaltens von Eltern und Lehrerin ist nicht selten die Folge. Dieses Erteilen der Lektion bewirkt aber im Grunde genau des Gegenteil dessen, was es bewirken soll. Das Kind fühlt sich noch weniger verstanden. Jetzt aber nicht nur von seiner Lehrerin, sondern auch von seinen Eltern. Die Folge sind weitere Unterrichtsstörungen. Der Teufelskreis schließt sich.

Folgen für das Kind

Langfristig hat dieser Mangel an Aufmerksamkeit und das Zurückstellen eigener Interessen allerdings nicht nur Unterrichtsstörungen zur Folge. Vielmehr endet er bei vielen Kindern in Resignation. Manchmal nur vor dem im Unterricht Gelehrten. Manchmal sogar davor, als Individuum in seiner Gesamtheit gebraucht zu werden und gefragt zu sein. Auf den ersten Blick scheint die Darstellung etwas überzogen, doch unterbewusst passiert genau das, wenn man das Gefühl hat, keine gültige Stimme mehr zu sein. Abneigung gegenüber der Schule verbunden mit einem Leistungsabfall sind dabei nur einige der wenigen sichtbaren Folgen.

Welche Rolle spielt das Einschulungsalter?

Natürlich lässt sich nicht pauschal sagen, dass Kinder, die erst mit sechs Jahren eingeschult werden, weniger im Unterricht stören, eine bessere Schulkarriere absolvieren oder besser ihre eigenen Interessen zugunsten der Mehrheit zurückstellen können als Kinder, die mit fünf Jahren eingeschult werden. Allein deshalb nicht, weil nicht nur die Aufmerksamkeit, die sie von ihren Lehrern bekommen im Bezug auf die positive Entwicklung des Kindes eine Rolle spielt, sondern auch die Persönlichkeit des Kindes eine ausschlaggebende Rolle spielt.

Welche Rolle spielen die Bezugspersonen außerhalb der Schule?

Darüberhinaus ist auch die Bindung zu wichtigen Bezugspersonen, die das Kind bereits in der frühen Kindheit erfahren hat und nun im Einschulungsalter weiterhin außerhalb der Schule erfährt, prägend. Hat das Kind die Chance, außerhalb der Schule – beispielsweise am Wochenende und am Nachmittag – direkte Aufmerksamkeit zu genießen, Anerkennung zu erfahren, Selbstbewusstsein aufzubauen, Selbstvertrauen zu gewinnen, Fragen zu Themen zu stellen, die es wirklich interessieren und selbstgestalterisch die Welt zu entdecken, gelingt es ihm in der Schule mit hoher Wahrscheinlichkeit besser, für einige Stunden seine Aufmerksamkeit und sein Interesse mit anderen zu teilen.

Welche Rolle spielt das pädagogische Bildungskonzept der Schule?

Weiterhin elementar in Bezug auf eine vorzeitige Einschulung ist das Bildungskonzept der Schule. Ist das Bildungskonzept so ausgerichtet, dass es die Interessen und Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes in den Fokus rückt, spricht meiner Meinung nach nichts gegen eine frühzeitige Einschulung. Im Gegenteil. Denn das Kind kann sich in diesem Fall gemäß seiner sensiblen Phasen mit Themen beschäftigen, die es intrinsisch motivieren und sich parallel mit Gleichaltrigen austauschen und von und mit ihnen lernen.

Außerdem kann es in diesem Fall nicht nur zuhause, sondern auch in der Schule Fragen nachgehen, die es beschäftigen und zwar auf einem Weg, der seinen Bedürfnissen entspricht. Das heißt, es muss erstens seine Interessen und zweitens seine Bedürfnisse fast nie zugunsten der Mehrheit zurückstellen. Gleichzeitig darf es selbständige Entscheidungen treffen und in seinem eigenen Rhythmus lernen. Das heißt, es ist in seiner ganzen Art viel ausgeglichener, als wenn es ständig den Willen von anderen (z.B. Lehrern, Mitschülern etc.) über seinen eigenen Willen hinweg aufgebrummt bekommt.

Fazit zur vorzeitigen Einschulung

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass eine vorzeitige Einschulung in letzterem Fall Chancen, in oben genannten Fällen aber auch Risiken bieten kann. Deshalb sollte man sich als Eltern/Erziehungsberechtigte unbedingt die Zeit nehmen und sich bezüglich des pädagogischen Konzeptes der Schule informieren. Stehen an der Schule die Interessen, Bedürfnisse und die Entdeckerfreude des einzelnen Kindes im Fokus aller unterrichtlichen Überlegungen, spricht nicht viel gegen eine vorzeitige Einschulung. Ist es hingegen so, dass in der Schule die Interessen der Mehrheit deutlich vor den Interessen des Einzelnen stehen, sollte man sich seine Überlegungen bezüglich einer vorzeitigen Einschulung nochmals gründlich durch den Kopf gehen lassen. Schließlich tut man dem Kind damit langfristig nicht unbedingt einen Gefallen. Auch wenn man sich davon vielleicht einen vorzeitigen Einstieg des Kindes in den Arbeitsmarkt und somit ein früheres eigenes Einkommen für das Kind erhofft.

Neben des pädagogischen Bildungskonzepts sollten bei der Frage nach einer vorzeitigen Einschulung Faktoren wie die Klassengröße, die verbleibende Freizeit des Kindes und die verbleibende gemeinsame Zeit berücksichtigt werden. Mit gemeinsamer Zeit meine ich in diesem Zusammenhang Zeit, in der man sich bewusst dem Kind widmet.

Nicht zuletzt sollte dem Kind bei der Entscheidung bezüglich einer vorzeitigen Einschulung ein großes Mitspracherecht zukommen. Denn von ihm, seiner Persönlichkeit, seiner Entwicklung und letztlich auch seiner Empfindung hängt der nachfolgende Schulerfolg in entscheidendem Maße ab. Und vielleicht hilft folgende Information: In den Pisa-Führungsländern liegt das Einschulungsalter bei sieben Jahren. Der ganze Einschulungsstress muss also nicht sein.

[1] Die Unter- und Obergrenze variiert von Bundesland zu Bundesland, weshalb hier die deutschlandweiten Minimal- bzw. Maximalwerte aufgeführt sind.

[2] Das heißt, wenn es körperlich, geistig, motorisch, sprachlich, emotional und sozial so weit entwickelt ist, dass es bei der Schuleingangsuntersuchung als schulreif gilt.

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Eugen
6 Jahre zuvor

Hi, toller Beitrag. Vor allem interessant, dass in allen Pisa-Führungsländern die Kinder erst mit 7 Jahren in die Schule gehen.